Prag

Mit em Werni in d’Ferni

Samstag

„Mit em Werni in d’Ferni“ prangt in grossen Lettern auf dem doppelstöckigen Reisebus, der mit rund einer halben Stunde Verspätung im Sihlquai eintrifft. Und tatsächlich: Es ist der langersehnte Reisecar, der uns nach Prag bringen soll. Nach und nach füllt sich der Bus mit einem bunten Querschnitt durch die Bevölkerung: Vom 18-jährigen Turtelpaar bis zum sechzigjährigen Stones-Experten („ich habe jedes Stück beim ersten Ton erkannt“, wird er später erzählen) ist das ganze Spektrum vertreten. Sogar eine Leiche fährt mit – so zumindest der Übernahme für einen ziemlich heruntergekommenen Typen, der verdächtig jenem Konterfei ähnelt, das man von den Etiketten der Giftflaschen kennt.Um Acht fahren wir endlich los – allerdings nicht Richtung Winterthur, sondern Richtung Graubünden. Im Heidiland müssen noch weitere Passagiere abgeholt werden, so die Erklärung des Chauffeurs. Es soll nicht die letzte Verzögerung dieser Reise sein.

Irgendwann am späteren Nachmittag erreichen wir die tschechische Grenze. Die Schlange vor der Grenze lässt Böses ahnen. Und tatsächlich dauert der Grenzübertritt endlos lange. Viel Zeit geht verloren, weil zwei Pässe fehlen. Später stellt sich heraus, dass die zwei „Schwamendinger“ nicht mitbekommen haben, dass sie ihre Pässe abzugeben haben. Die Businsassen fordern danach lauthals eine Runde Bier von den zwei Schusseln. Die Jungs jedoch sind sich keiner Schuld bewusst. Kurz bevor sich der Bus wieder in Bewegung setzt, erhalten wir eine neue Passagierin: Eine bedauernswerte Blondine aus einem anderen Bus hat ihren Pass vergessen und wurde von den Fahrern kurzentschlossen in unseren Bus geschmuggelt – denn hier soll es mittlerweile mehr Pässe als Passagiere geben. Die arme Blondine zittert am ganzen Körper vor Aufregung, doch ihrer Nervosität ist unbegründet: Kein Zöllner bemerkt die Blinde Passagierin.

Endlich in Prag angekommen geht die Suche nach unserem Hotel los. Unser Fahrer hat weder Stadtplan noch Ortskenntnisse. Glücklicherweise kann er einem anderen Bus folgen, der ins selbe Hotel muss und dessen Fahrer behauptet, den Weg zu kennen. Trotzdem warten noch einige Hindernisse auf uns. Zum Beispiel die vielen Brücken von Prag. Denn damals, als diese Brücken und Unterführungen gebaut wurden, gab es noch keine zweistöckigen Reisebusse. Und so kommt, was kommen musste: zwei Reisbusse müssen vor einer Brücke kapitulieren – es gibt kein Durchkommen, die Brücke ist definitiv zu tief. Unter den Augen einiger erstaunter Passanten wird zurücksetzt und ein neuer Weg gesucht. Und solche gibt es viele in Prag. Genauso wie Fahrleitungen der städtischen Busse. Und die geraten auf unserer unfreiwilligen Stadtrundfahrt mehrmals in Gefahr, von den doppelstöckigen Bussen heruntergerissen zu werden.

Als wir schon damit rechnen, die Nacht im Bus zu verbringen, finden die Fahrer unser Hotel erstaunlicherweise doch noch. Dann wieder warten. Worauf weiss allerdings niemand so genau. Ist es vielleicht doch nicht das richtige Hotel? Ist es etwa schon ausgebucht? Wurde vielleicht gar keines reserviert? Doch plötzlich geht es vorwärts und wir werden zur Rezeption vorgelassen. Bis alle Passagiere der zwei Busse eingecheckt haben dauert es nochmals eine Ewigkeit. Natürlich  sind danach die Restaurants in der näheren Umgebung schon alle geschlossen. Naja, genügend Bier und ein paar Erdnüsse ersetzen eine Mahlzeit, sagt man.

 

Sonntag

Eine Stadtrundfahrt ist heute Morgen angesagt. Doch wir kommen nicht weit: ein grosser Teil der Stadt ist heute für Fahrzeuge gesperrt. Also aussteigen und zu Fuss gehen. Ist nicht weiter schlimm, schliesslich sieht Veronika, unsere tschechische Reiseführerin mit dem sexy Akzent bezaubernd aus. Wir folgen ihr durch die wunderschöne Prager Altstadt und erfahren jede Menge über Brücken, Häuser und legendäre Fensterstürze. Schnell wird klar: Prag ist absolut sehenswert und jederzeit wieder eine Reise wert.

Zurück im Hotel beginnt es zu regnen wie aus Kübeln. Wir haben nichts dagegen, lieber jetzt ein kurzer Schauer, als dann später am Konzert. Und tatsächlich: Der Spuk ist von kurzer Dauer und schon bald kehrt die Sonne wieder zurück.

Danach geht’s mit der überfüllten U-Bahn ans Konzert. Auf dem riesigen Open-Air-Gelände sieht es allerdings nicht so aus, als ob es hier schon geregnet hätte. Dafür wiederholt sich wenig später, was wir bereits vor rund einer Stunde erlebt hatten: Der blaue Himmel verdunkelt sich, Wind kommt auf, und stattliche Blitze sorgen für sorgenvolle Gesichter bei den Konzertbesuchern. Zieht das Unheil vorbei, oder werden wir doch noch geduscht, so die bange Frage. Petrus jedoch hat kein Einsehen mit den 80000 Konzertbesuchern: Kurz nachdem die tschechische Vorgruppe Olympic ihren überzeugenden Auftritt beendet hat beginnt es in Strömen zu regnen. Ohne Regenschutz hilft nur eines: T-Shirt ausziehen und mit nacktem Oberkörper dem Regen trotzen, so hat der durchnässte Konzertbesucher später wenigstens wieder was Trockenes zum Anziehen.

Glücklicherweise ist der Regenschauer auch diesmal schnell vorbei. Es folgt eine kurze Ansprache des  ehemaligen Präsidenten Havel, einem alten Freund von Mick. Ausser „Kapella Rolling Stones“ verstehe ich allerdings nur Bahnhof.

Dann endlich: Ein Keith-Richards-Riffs lässt die eben erst abgeklungene Gänsehaut wieder aufleben. „Brown Sugar“ tönt es au den Monitorwänden – endlich geht’s los!  Mick – gestern erst sechzig geworden – tigert über die Bühne, als müsste er sich auf einen olympischen Marathon vorbereiten. Erst als wenig später riesige, abgrundtiefe Falten auf der übergrossen Videowand zu sehen sind, wird klar: Die Jungs sind keine zwanzig mehr. Doch sie spielen mit einer Energie, als wären sie’s eben erst geworden: Während über zwei Stunden gibt die Band alles und entschädigt mit ihrem überzeugenden Auftritt für allen Unbill der bisherigen Reise – und auch für den, der noch kommen wird…

 

Montag

In den Bus ist  eingebrochen worden, heisst es, als wir kurz vor Acht unser Gepäck einladen wollen. Die Abfahrt muss verschoben werden, unser Fahrer muss jetzt zuerst zur Polizei und das dauert. Das gibt uns Zeit, mit den andern Reiseteilnehmern ein bisschen über die Konzerterlebnisse zu plaudern. Natürlich sind auch sie alle restlos begeistert vom Auftritt der besten Band der Welt!

Um 11 wird zur Abfahrt gerufen. Wenig später sitzen alle im Bus, nur der Kroate fehlt. Als er endlich eintrifft, bekommt er von seinem Freund eine gehörige Standpauke verpasst. Dann fahren wir los. Mitten in den Prager Mittagsverkehr, doch diesmal bleiben wir wenigstens an keiner Brücke hängen. Dafür gibt es kurz nach Prag bereits den ersten Halt: Der Plastik, mit dem die seit dem Einbruch fehlende Seitenscheibe notdürftig repariert wurde, hat sich gelöst. Wir fahren zu einem Baumarkt und dort wird die Seitenscheibe mit vereinten Kräften mit einer Plastikblache zugeklebt. Dann zurück in den Stau – im Schritttempo schiebt sich unser Bus durch die Gegend. Eine gute Gelegenheit für ein Stones-Quiz: Wie alt sind die Jungs zusammengezählt, welche Stücke haben sie gestern gespielt, welches war das erste, welches das letzte Stück – Fragen, die auch die vielen Experten im Bus herausfordern.

Gegen 17 Uhr erreichen wir endlich den deutschen Zoll. Leider wurde beim Einbruch die Passagierliste geklaut, was den Grenzübertritt zusätzlich kompliziert. Die Passagiere nehmen die erneute Warterei gelassen, man ist mittlerweile zu einer richtigen Schicksalsgemeinschaft geworden – nichts kann uns mehr erschüttern. Und so witzeln wir, was wohl als Nächstes schief laufen wird. Wenigstens sollen sich die beiden Jugoslawischen Freunde wieder versöhnt haben, wird erzählt. Ein kleiner Lichtblick in dieser wahrgewordenen Seifenoper.

Dann, irgendwann nach 18 Uhr geht es weiter. Mittlerweile ist das Stones-Quiz ausgewertet und die Gewinner werden bekannt gegeben. Sieger ist der „Schwamendinger“ Fredy Hinz; er konnte fast die ganze Playlist rekonstruieren – bei 19 gespielten Stücken eine reife Leistung. Und welche Ironie: der Fredy war gar nicht am Konzert! Und das kam so: Fredy (bereits acht Konzerte auf dem Buckel – ein richtiger Fan also) und sein älterer Begleiter der Hans verloren sich kurz vor dem Konzerteingang aus den Augen. Hans („ich bin eigentlich gar kein Fan, ich bin nur wegen dem Fredy da“) hatte die Billette der Beiden und wartete am Eingang auf Fredy, doch der tauchte nicht mehr auf. Er wartete nämlich dort, wo sich die beiden verloren hatten. Und so kam was kommen musste: Fredy, der grosse Stones-Fan musste draussen bleiben, während Begleiter Hans alleine das Konzert besuchte. Naja, wenigstens akustisch hat der Fredy das Konzert mitbekommen, wie wir nun alle wissen.

Kurz nach Acht dann endlich die erste Essenspause. Nach einer dreiviertel Stunde geht es weiter. Und allen ist klar: wir erreichen Zürich heute nicht mehr. Dumm vor allem für diejenigen, die am Morgen früh einen Termin haben. Oder für jene, die von Zürich noch ins Tessin weiterreisen müssen. Doch die Stimmung der Stones Fans im Bus ist aller Unbill zum Trotz noch immer bestens. Solange die Versorgung mit Bier und Wein gewährleistet ist, kann uns heute nichts mehr umhauen. Auch nicht der erneute Umweg des Busfahrers über Sargans.

Doch dann – kurz vor Vier in der Nacht – trifft der Bus zur Überraschung aller doch noch in Zürich ein. Der Fahrer ist nun schon seit rund 17 Stunden unterwegs, doch das scheint ihn nicht weiter zu beunruhigen, im Gegenteil: Er  wird noch ein bisschen weiter fahren und die restlichen Passagiere nach Zug bringen, um dann wieder nach Chur zurückzufahren, schliesslich wartet dort am Dienstag bereits die nächste Fahrt auf ihn.

Als ich auf der Heimfahrt dem arabischen Taxifahrer erzähle, dass wir in Prag waren, meint er: “War nicht am Sonntag ein Konzert in Prag von so einer berühmten Band dessen Sänger am Samstag Geburtstag gefeiert hat?“ Genau so war es.

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